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Eine Spur von Trauer umgab diesen Menschen. Wenn ich dann mit den Einkäufen an seiner Tür klingelte, viel war es nie, lächelte er leise und bedankte sich. Stets war er gut und sauber gekleidet. Immer trug er eine Krawatte. Oft hörte ich beim Übergeben der Einkaufstasche im Hintergrund, aus der geöffneten Tür eines Zimmers, leise klassische Musik. Wunderbare Harmonien aus längst vergangenen Zeiten klangen ins Heute, in die Gegenwart. Diese Art von Musik schien er zu lieben. Nie machte er viel Aufhebens oder verwickelte mich in lange Gespräche. Oft hatte ich das Gefühl, er sei kontaktscheu. Außer in mir und in der Familie gegenüber seiner Wohnung hatte er keinen Ansprechpartner im Haus. Besuch sah man bei ihm nie. Einzig die kleine, lebhafte Tochter der Nachbarsfamilie hatte Zugang zu seiner Wohnung und offenbar zu seinem Herzen. Ihr erteilte er Nachhilfeunterricht. Ich glaube, das hat ihm gut getan. Einige Tage vor seinem Ableben bat er mich, völlig überraschend, doch einmal in seine Wohnung. Große, dunkle Regale, welche bis an die Zimmerdecke reichten, waren vollgestopft mit hunderten Büchern, Bildbänden, Reiseprospekten und Erinnerungsfotos. Sie lehnten an den hell getünchten Wänden seines Wohnzimmers. Alle weiteren Möbel, auch die Stühle und Sessel, waren mit hellgrünen Tüchern sorgfältig verhüllt. Die Vorhänge waren zugezogen. Eine beruhigende, milde Dämmrigkeit lag auf allen Dingen im Zimmer. Es sah aus, als wäre der Besitzer schon vor längerer Zeit für immer verreist, niemand mehr anwesend. Eine unglaubliche Sauberkeit herrschte überall. Es war irgendwie ein klein wenig gespenstisch. „Hier sind die Schlüssel zu meiner Wohnung. Da ich keine Verwandten und keine Familie habe, möchte ich Sie bitten, im Falle meines Ablebens meine Wohnung auszuräumen und alles, bitte alles zu entsorgen. Hier in diesem Briefumschlag ist Geld. Das nehmen Sie bitte für Ihre Mühen und für die Entsorgungsfirma. Sie müssen im Ernstfall niemanden informieren und auch keine Anzeige in irgendeiner Zeitung schalten. Bitte fühlen Sie sich für alles weitere nicht zuständig!“ Als ich sanft protestierte und ihm sagte, dass er doch noch gar nicht so alt sei, antwortete er leise: „Ich bitte Sie inständig im Falle des Falles hier alles entrümpeln zu lassen. Rufen Sie eine Entsorgungsfirma. Alles kann unbesehen weg!“ Da der Fall des Falles nun eingetreten ist, habe ich alles so erledigt, wie mir aufgetragen wurde. Das gesamte Inventar wurde ohne weitere Betrachtung und Begutachtung konsequent, wie gewünscht, der unwiederbringlichen Vernichtung zugeführt. Nur seine umfangreichen Papiere und Tagebücher habe ich aufgehoben und mit Interesse gelesen. Nachdem ich das getan hatte, wurde ich neugierig und habe weitergehende Recherchen angestellt. Auch im Krankenhaus, seiner letzten Station, sprach ich vor. Das, was man unabhängig von der ärztlichen Schweigepflicht sagen durfte, hat man mir erzählt. Ebenso erlaubte man mir ein Gespräch mit seinem Leidensgenossen im Zimmer auf der Krankenstation. Dann habe ich alles sorgfältig aufgeschrieben. Das Ergebnis ist nachfolgend veröffentlicht. Ich bekenne, erst beim Niederschreiben habe ich meinen liebenswürdigen Hausnachbarn wirklich kennengelernt. Wieder einmal musste ich feststellen, dass man zwar miteinander lebt, sich sieht und grüßt, aber eigentlich nichts voneinander weiß. >ehr konnte ich für Heinrich nicht tun. Alles, was ich erkundete, habe ich möglichst wahrheitsgetreu wiedergegeben. Ich kann jetzt die unglaublich tragische Biografie dieses sensiblen Mannes schließen. Alles, was ich erfahren habe, packte ich in die letzten drei Tage seines Lebens. Einzig das war meine künstlerische Freiheit. Alles andere ist so geblieben, wie ich es ermitteln konnte und erzählt bekam. Jede Ähnlichkeit mit noch lebenden, mehr oder weniger bekannten Personen, welche möglicherweise ein gleichgelagertes Schicksal oder gleiche Namen haben, oder bekannten Ort- und Landschaften ist rein zufällig. Hier geht es einzig um das, was meinen Nachbarn kennzeichnete und ausmachte. Ich bin nach Wochen aus seinem Leben aufgetaucht und wieder in mein Schicksal geschlüpft. Möge seine in dieser Welt rast- und ruhelose Seele nun ihren Frieden und gütige Beruhigung in einem anderen, besseren Sein finden. Nun bin ich frei! 22. Dezember Die Dämmerung drängte sich durch das große Panoramafenster im zweiten Stock des Plattenbaues am Rande der Großstadt in den ohnehin schon dunklen Raum. Dünne Regenstreifen begleiteten das vergehende, fahle Licht dieses ungemütlichen, bereits untergehenden Dezembertages. In schmächtigen Tropfenketten sickerten sie auf das dunkelgrüne Fensterbrett. Bald würde dieser trübe, bedeutungslose Tag Vergangenheit sein. Auch in diesem Jahr fehlt der Schnee. Das andauernde Grau der vergangenen, diesigen Tage machte die Menschen matt und depressiv. Übermorgen war es wieder so weit. Die Heilige Nacht wird dann für einen kurzen Augenblick die hastenden, getriebenen Menschen, die löchrigen, schwarzen Asphaltstraßen und die frierenden, kahlen Bäume mit ihrem hellen, wärmenden, hoffnungsfrohen Lichterglanz übergießen. In vielen Fenstern sah man schon festliche, erwartungsfrohe Beleuchtung. Engel und Bergmann standen hölzern und kerzengerade beieinander und hielten jeweils zwei Lichter in ihren Händen. Hier und da leuchtete auch schon ein festlich geschmückter Baum. Ein Kind wurde geboren in Betlehem, so lautete die christliche Botschaft dieses ersehnten Tages, dieser kommenden besonderen Nacht. Nur die glücklichen Eltern waren anwesend. Es gab keine opulente Feier in dieser kargen Behausung. Hirten waren die ersten, welche von der Geburt unterrichtet wurden und neugierig eilends kamen, um zu sehen. Dieses Ereignis wird auch nach über zweitausend Jahren in den Häusern vieler Menschen immer wieder prächtig und aufwändig gefeiert. Familien kommen zusammen, Feindschaften werden in dieser Woche begraben, Friede wird verkündet. Ein Zeichen der Liebe und Vergebung sollen die Menschen einander geben. Ein Kind wird geboren. Ein beginnendes, noch unschuldiges Leben wird beladen mit Erwartungen, Sehnsüchten und Hoffnungen der Erwachsenen und damit auf seine Lebensreise geschickt. Immer wieder leuchtet ein Licht in der Finsternis, wenn ein junger Stern seinen Lebensweg beginnt. Ein erwachendes, vertrauendes, hilfloses, frohes, lachendes Kind, geliebt und behütet am Anfang. Was wird von diesen schönen Träumen und Wünschen nach Jahren der Mühsal, der harten Arbeit und des grübelnden Sorgens übrigbleiben? Wie wird diese, seine so fröhliche, sorglos gläubig gestartete Lebensgeschichte ausgehen? Hat das Kind dann die Hoffnungen der anderen erfüllt, oder ist es am Ende seines zu gehenden Weges ganz anders gekommen? Wurde das mitgegebene Erbe des Lebens eher Last statt Lust? Der alte Mann lag auf seinem dunkelbraunen Liegesessel. Die Beine hatte er, dank einer Fernbedienung an dieser Sitzmöglichkeit, in die Waagerechte bringen können und mit einer grünen Wolldecke umhüllt. So war seine Lage erträglicher. Immer wieder spürte er die stechenden Schmerzen im Unterleib. Der Krebs, welchen er vor einem Jahr überwunden glaubte, meldete sich nun trotzig und unerbittlich zurück. Gottlob hatte er in Dr. Braun einen guten Hausarzt, welcher ihm, dank seiner Verbindungen zum städtischen Universitätsklinikum, schon morgen, so kurz vor Weihnachten, ein Bett in der Fachstation organisiert hatte. Diese Spezialklinik und die sehr guten Fachärzte würden dem schmerzgeplagten Alten helfen und ihn wieder auf die Beine stellen, so Dr. Braun. „So schlimm sieht es doch noch gar nicht aus“, verbreitete der Doktor Optimismus. „Sie können bei guter Behandlung und mit Glück uralt werden.“ Mit seinen siebenundsechzig Jahren fühlte sich Heinrich zwar noch nicht alt, aber er war nicht so optimistisch wie sein Hausarzt. Er spürte irgendwie instinktiv, dass er nicht mehr viele Tage vor sich hatte. Doch das machte ihm keine Angst. Nun war die Nacht vollständig, leise und heimlich ins Zimmer gekrochen. Sanft legte sie sich über die Stille des erstarrten Raumes. Die gegenüberliegende Straßenlaterne warf einen dunkelgelben, beruhigenden, milden Lichtkegel in die Wohnung und auf den Liegenden. Schatten malten bizarre Bilder an die Wand. Nicht besonders groß, seit zwei Tagen unrasiert, krümmte sich die schmächtige Gestalt auf dem höhenverstellbaren Sessel und hörte dem Ticken der Wanduhr zu. Sorgsam zählte diese die Minuten. Die verbrauchte Zeit wurde einfach fallen gelassen und die Zeiger der alten Uhr griffen immer wieder und stetig das endlose Band der Ewigkeit auf, um es alsbald, in eben dieser Sekunde, gerade jetzt, für wertlos, für nicht mehr relevant anzuzeigen und unwiederbringlich über Bord zu werfen. Lautlos flimmerten Bilder des laufenden Fernsehers in den Raum. Heinrich hatte den Ton abgestellt, weil er diese Art der Unterhaltung und seichten Volksverführung nicht ertragen konnte. Der Fernseher lief nur, damit ein wenig Buntheit in seinem stillen, zurückgezogenen Leben war. Soeben war es 19.00 Uhr und im ZDF begann die nun für Heinrich unhörbare Nachrichtensendung. Vor zwei Stunden hatte er noch ein kurzes Gespräch mit seiner Nachbarin geführt. Sie und ihr Ehemann stammten aus dem fernen Indien und arbeiteten als Bedienung in einem angesagten Restaurant am Alten Markt. Vor zwei Jahren waren sie in die gegenüberliegende Wohnung auf seiner Etage gezogen. Stets wunderbar und farbenfroh nach der Tradition ihres Herkunftslandes gekleidet, bauten sie mit ihrer sonnigen Herzlichkeit nach und nach eine Brücke des Vertrauens. Es waren überaus höfliche, hilfsbereite und aufmerksame Eheleute. Eine achtjährige Tochter, namens Ranja, brachte Lebendigkeit in die Hausgemeinschaft. Dieses lebhafte, schmale, dunkeläugige Kind war Heinrich ans Herz gewachsen. Da er selber keine Familie mehr hatte und niemanden, mit dem er besonders vertrauten Umgang pflegte, bedeutete ihm ein fröhliches Lächeln und ein heiteres: „Guten Tag, Heinrich!“, welchen ihm das Kind strahlend lachend wünschte, sehr viel. Heinrich war ursprünglich Germanist und Experte für osteuropäische Sprachen. Auf vielen Exkursionen in die diese Länder konnte er Stoffe für seine Arbeit finden und Kontakte knüpfen. Das geschriebene Wort war seine Leidenschaft. Insbesondere verehrte und liebte er die Werke des genialen Goethe und des leider heute nicht mehr sonderlich aktuellen Franz Werfel. Bis zu seinem großen Schicksalsschlag vor sieben Jahren hatte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der städtischen Bibliothek gearbeitet. Bücher waren schon immer seine klugen, unentbehrlichen Freunde und Mitreisende. Ob dieser Tätigkeit verfügte er über ein sehr großes Allgemeinwissen. Er sprach wenig, wirkte mitunter verschlossen. Trotzdem war er bei seinen zahlreichen Vorträgen über osteuropäische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts und die Entwicklung der Sprachen dieser Länder ein wortgewandter Redner. Für sein lexikongleiches Wissen wurde er in seinem Arbeitsumfeld geschätzt. Er war das, was man im Volksmund einen Schöngeist nennt. Im Laufe seiner Nachbarschaft mit den neuen, sympathischen Mitbewohnern war eine gute Freundschaft entstanden. Besonders rührte es Heinrich, dass man ihn bat, mit der quicklebendigen, lebenslustigen Tochter die deutsche Sprache zu üben, denn darauf legte das indische Ehepaar großen Wert. Natürlich nahm er kein Geld für diese Übungen. Klug und neugierig, mit einer wunderbaren Auffassungsgabe ausgestattet, nahm seine kleine Freundin die Sprachübungen und lustigen Schriftsätze an. Ihn munterten die heitere Lebenslust und der unglaubliche Wissensdrang des Kindes auf. „Weißt du, Heinrich“, sage seine kleine Freundin einmal, „ich will doch wissen und verstehen, warum die Menschen in deinem Land so sind, wie sie sind.“ Doch heute musste er seine nachmittäglichen Unterrichtsstunden absagen. Der besorgten Nachbarin erzählte er etwas von einem kleinen Unwohlsein. Sie würde morgen wieder klingeln und nach ihm schauen. Heinrich stellte den Fernseher per Fernbedienung ab. Grübelnde Finsternis und kalte Stille umgaben ihn. |