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Leseprobe für das Buch Kleines bisschen Leben
Mein Weg aus der Magersucht
von Laura Huber:

1. Fallen
Winter, 2015
Das Einzige, was mir Halt gibt, ist das Hungern. Die Zahl auf der Waage, die immer kleiner wird. Die Knochen, die weiter vorstehen. Irgendwann habe ich die Kontrolle verloren und eine Stimme in mir ist mit jedem Tag lauter geworden. Als ich die 5 an erster Stelle auf der Waage nicht mehr sehe, fühle ich für einen Moment ein bisschen Erleichterung, dann sehe ich mich im Spiegel und fühle mich schrecklich dick. Ich esse mittlerweile nur noch ein kleines Müsli in der Früh, das fast nur aus Milch und ein paar vereinzelten Flocken besteht. Unter der Woche fällt mein Mittagessen aus, weil ich in der Schule nichts mehr esse. Abends esse ich nur noch ein bisschen Salat. Ich habe Angst vor den Wochenenden, wenn es zu Hause Mittagessen gibt. Wenn ich zum Mittagessen überhaupt an den Tisch komme, esse ich nur ein bisschen Suppe und gehe danach spazieren.
Es ist kalt, ich habe die Hände in meinen Jackentaschen und fühle meine Knochen. Die Schmerzen von damals sind noch da, aber ich habe nicht mehr die Kraft, sie richtig zu fühlen. Ich habe Halt. Wie eine Freundin, die gegen meinen Körper ist, aber mich und meine Seele trägt, wenn ich leicht genug bin.
Ich falle am Abend in mein Bett und fühle meine Knochen. Es tut weh, auf dem Bauch zu liegen, weil mein Hüftknochen heraussteht. Ich liege auf meinem knochigen Rücken und brauche eine Wärmflasche. Es ist so eisig kalt. Ich bin so schwach, dass ich mich nicht mehr umziehen kann. Ich liege nur da und denke, dass ich morgen nicht mehr aufwachen werde. Meine Knochen drücken im Liegen und mir ist eisig.
Beim Aufstehen ist mir sofort schwindelig. Ich stehe lange vor dem Spiegel, schaue mich an und erkenne mich nicht. Ich will mich nicht erkennen. Irgendwie fühle ich mich schrecklich dick und verloren vor dem Spiegel. Ich gehe ohne Frühstück aus dem Haus. In meine Tasche stecke ich einen Apfel und eine Flasche Wasser. Nur, damit meine Eltern mich gehen lassen. Für mich steht sowieso schon längst fest, dass ich nichts davon anrühren werde. Ich fühle mich schwach und die Kälte um mich ist schlimmer als sonst. Ausnahmsweise bekomme ich einen Sitzplatz im Bus und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe. Ich bin so geschwächt, dass ich keine Angst mehr vor der Schule wahrnehmen kann. Sie ist da, aber sie erreicht mich nicht mehr. Im Englischunterricht sollen wir eine Gruppenarbeit vorstellen. Aber ich bin so schwach, dass ich sitzen bleibe, als meine Gruppe aufsteht. Alle drehen sich zu mir, aber ich bleibe sitzen und keiner sagt etwas. Jede Bewegung ist mir viel zu viel. Trotzdem gehe ich zu einem Gespräch mit Frau Winter, meiner Vertrauenslehrerin. Sie fragt, was ich heute schon gegessen und getrunken habe. Jeder hätte mich fragen können und ich hätte gelogen, …
...
Ich zwinge mich immer noch, zu essen. Es schmeckt nicht und widert mich nur noch an. Ich wiege 50,3 kg und fühle mich so dick und fremd in mir. Ich hasse meinen Körper. Die Magersucht hätte mich so schwächen können, dass ich sterbe. Aber sie war wenigstens da für mich. Sie war meine Stütze, hat mir das gegeben, was mir niemand sonst geben konnte. Niemand war für mich da, bis die Magersucht mit mir davongeflogen ist. Jetzt verliere ich sie durch die Zunahmen. Die Zahl auf der Waage tut weh. Die Kontrolle beim Essen fehlt, die Kälte, Schwäche. Die Knochen stehen nicht mehr so weit raus. Ich verliere nicht nur sie, sondern auch mich selbst. Ich bin alleine, ohne Schutz, ohne Halt. Aber meinem Körper geht es besser. Das ist es, was alle anderen Menschen sehen wollen. Es ist egal, wie es meiner Seele dabei geht. Dass ich zerreiße. Dass ich verloren gehe. Magersucht ist für mich keine Krankheit. Sie ist das Netz, das stark genug ist, um mich zu fangen und zu halten. Aber solange die Zahl größer wird, sieht keiner, wie schwer das alles ist. Nur Frau Lego lächelt mich jede Woche an und sagt mir, dass sie stolz ist und dass ich meinen Zielen näher bin. Mittlerweile darf ich ein paar Mal alleine zur Schule gehen. Von meinen Zwischenzielen habe ich noch keins erlebt, weil Frau Winter im Moment keine Zeit hat und ich mich nicht mehr traue, wirklich zu schreien und meine Stimme zu hören. Frau Lego ist ein bisschen enttäuscht und will nach neuen Zielen suchen. Aber ich habe keine Ziele mehr. Ich weiß nicht mehr, was ich will und wofür ich mein Leben zurückwill.


Bin gefallen
Unbemerkt
Bin gefallen
Haltlos
Immer tiefer
Halt
Magersucht.

Ich sitze da und denke nicht,
kann mich nicht konzentrieren,
alles zieht vorbei,
was mach‘ ich nur falsch?

Ich fühle mich schwach,
kann kaum noch gehen,
kann nicht mehr laufen,
aber gehe meinen Weg.

Ich habe keine Kraft,
kann nicht mal mehr lächeln,
jede Bewegung, viel zu viel,
aber ich mach‘ alles mit.

Ich bin kaputt,
fühl‘ nichts außer Schwäche,
keine Angst mehr in mir,
vor nichts,
fühl‘ nur noch die Schwäche -
kann nicht mehr.


Splitter
Juni 2015; 10. Perzentile: 53 kg
Ich will kein Gramm mehr als die 10. Perzentile wiegen. Ich habe kein Gefühl mehr für meinen Körper. Es ist komisch, nicht mehr rund um die Uhr zu frieren. Verloren. Zerrissen. Verzerrt. Zerbrochen. Es ist Sommer, aber ich trage lange Hosen und Jacken, um meinen Körper vor den anderen Menschen zu verstecken. Meine Familie fährt zu Oma und Opa. Ich fühle mich schrecklich und dick in meinem Körper und weiß nicht, was ich anziehen soll. Ich suche weite Klamotten, unter denen ich mich verstecken kann, aber der Hass auf meinen Körper verschwindet dadurch nicht. Bei Oma steht so viel auf dem Tisch, dass ich mich erschlagen fühle. Sie sagt, dass ich dünn bin, aber ich will es nicht hören, weil es sich falsch anfühlt. Ich will nicht, dass jemand meinen Körper sieht. Obwohl ich diese Perzentile und Frau Legos Zielgewicht habe, bin ich so schwach. Die Treppe fällt mir so schwer und mir ist bei unserem Nachmittagsspaziergang schwindelig.