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Leseprobe für das Buch Anna und Aischa
Zwischen Wandbehang und schokozarter Hartwurst
von Erhard Wetzel:

Vorwort
Vorurteile gegenüber Jugendlichen sind so alt wie die Menschheit.
'Wenn ich die junge Generation anschaue, verzweifle ich an der Zukunft der Zivilisation.' Aristoteles (367 v. Chr.)
'Die jungen Leute von heute haben keine Ehrfurcht vor ihren Eltern oder dem Alter. Sie sind ungeduldig und unbeherrscht.' Mönch Peter (1274)
'Die jungen Leute widersprechen ihren Eltern und tyrannisieren ihre Lehrer.' Sokrates (470-399 v. Chr.)
'Die Jugend hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten soll.' Sokrates (400 v. Chr.)
'Junge Leute von heute sind konsumorientiert, faul und dumm. Sie interessieren sich nicht für die Zukunft. Immer nur Musik und Klamotten im Kopf. Ihre tägliche Umgangssprache sowie der Umgang untereinander sind eine Katastrophe. Manche sind derart unfreundlich, stur und gewaltbereit, dass man sie nicht mehr ertragen kann. Was die Arbeit angeht, wollen viele gleich ins Management zum Geld kassieren. Lehre ist Fehlanzeige. Sie lieben krankzufeiern, da diese Jugend keinen Bock zum Arbeiten hat.' Aussagen von Eltern, Lehrern und betrieblichen Ausbildern gegenüber dem Autor in Beratungsgesprächen.
'Nicht alle sind so, keineswegs',
müssen sie zugeben, wenn nachgehakt wird.
'Aber viele der Jugendlichen machen diesen Eindruck.'
Die Einstellung der jungen Deutschen hat sich in den letzten Jahren sehr gewandelt. Sie sind besser aufgeklärt als je zuvor, und gehen mit ihrem Wissen auch verantwortungsvoll um. Medien vermitteln im Gegensatz dazu ein skandalisierendes Bild. Auffallendes Betragen einzelner wird als normal übliches Verhalten der Jugend dargestellt, nachdem z.B. Sex immer früher, immer häufiger und wahlloser betrieben werde. Untersuchungen der BZgA[1] widerlegen diese Darstellungen.

Die heutige junge Generation in Deutschland gibt sich zuversichtlich. Sie lässt sich weder durch Krisen noch durch unsichere berufliche Perspektiven von ihrer optimistischen Grundhaltung abbringen. Mit aktuellen Herausforderungen in Alltag, Ausbildung und Gesellschaft gehen Jugendliche pragmatisch um. Eine starke Leistungsorientierung und ein ausgeprägter Sinn für soziale Beziehungen[2] prägen das Auftreten dieser Generation. Selbstbewusst wollen junge Leute ihr Leben selbst gestalten. Trotz aller Sorgen vor Arbeitslosigkeit träumen sie von einem gut bezahlten Job und von einer besseren, gerechteren Welt. Die Mehrheit von ihnen ist sehr kontaktfreudig und übt sich in Toleranz. Die Jugendlichen sind bei Weitem nicht so egoistisch, wie oft von den Erwachsenen behauptet wird. Für das Freiwillige Soziale Jahr ist meistens die Zahl der Bewerber größer als die Menge der freien Plätze. Drei von vier Jugendlichen engagieren sich in der Sozialarbeit und im Umweltschutz. Die Bereitschaft, sich für die große öffentliche und für verschiedene kleine private Gemeinschaften einzusetzen, ist groß.

Ziele und Weltanschauung der jungen Menschen haben sich in den vergangenen fünfzig Jahren drastisch verändert. In der Nachkriegsgeneration ging es in den Elternhäusern meist autoritär zu. Heute hat sich das Verhältnis zu den Eltern entspannt. Generationen übergreifende Ziele sind beruflicher Erfolg, eine eigene Familie und ein ausgefülltes Freizeitleben. Dabei überfordert die gestiegene Bandbreite der Möglichkeiten viele. Wenn der erlangte Traumjob sich als prekäres Arbeitsverhältnis herausstellt, die große Liebe in einer Enttäuschung endet und von Freizeit neben Schule, Lehre oder Beruf keine Rede mehr sein kann, wird die Wahlfreiheit unerwartet zum Stress. Belastungen und Angstzustände führen immer häufiger zu schweren Einbrüchen bei Leistungen und dem Vermögen, sich zu konzentrieren.[3] Dadurch kann die Entwicklung zum selbständigen Erwachsenen auf Abwege geraten.

Die Jugendzeit ist gemeinhin die Zeit des Aufbruchs, ein Lebensabschnitt, dem die Älteren oft nachweinen, weil sie ähnliche, vermeintliche Freizügigkeiten nicht erfahren durften. Diese Entwicklungsphase ist mit Klischees, Wunschvorstellungen und Vorurteilen überfrachtet. Die zunehmende Industrialisierung bedingt eine breiter werdende Berufsausbildung, was einen späteren Eintritt der jungen Menschen in das Arbeitsleben bedingt. Chefs kleinerer Betriebe klagen dabei über erhöhte Kosten der Ausbildung, wodurch sie sich gerechtfertigt sehen, vom Lehrling mehr Leistung in der Produktion zu verlangen. Hier sollen unreife Personen auf den mustergültigen Weg gebracht werden, wozu auch der Spruch Goethes ‚Lehrjahre sind keine Herrenjahre‘ herhalten muss.
Männlichen Vertretern der Arbeiterklasse zwischen 13 und 18 Jahren werden Tendenzen zur Trunksucht, Verwahrlosung und Kriminalität angelastet. Dass die Jugend Treibstoff und Motor jeder menschlichen Weiterentwicklung ist, versteht sich bei etwas Nachdenken von selbst. Da eine Gesellschaft ohne Kinder und ohne Erwachsene, die sich Kinder wünschen und bereit sind, welche zu bekommen, keine Zukunft hat und ausstirbt, bildet die verantwortungsvolle Erziehung den Kern menschlicher Politik. Manche Erwachsene setzen Kinder in die Welt, weil sie denken, sie könnten dadurch ihre soziale Situation verbessern. Ebenso gibt es Betriebe, die versuchen, mit Lehrlingen Profit zu machen. Niedrige Einschätzung der Erziehungsaufgabe missachtet die Verantwortung jungen Menschen gegenüber, deren Selbstbewusstsein und positive Grundhaltung gegenüber dem Leben durch Bildung gefördert werden sollte.

Menschen, die in ihrer Jugendzeit auf Herzlichkeit und auf Zuneigung verzichten mussten, unterliegen der Gefahr, einer lebenslang anhaltenden Verunsicherung zu verfallen. Aus diesem Zwiespalt können Hass, Aggressionen, Ängste und Alpträume entstehen. Die Entwicklung kommt auf die schiefe Bahn und der Werdegang der betreffenden Menschen verläuft mitunter chaotisch. Sie unterliegen bereitwillig Einflüsterungen von außen, eigenen Mutmaßungen, Eifersüchteleien und Verlockungen. Eltern, Erzieher und Ausbilder erzeugen mitunter durch Unbedachtsamkeit, Gleichgültigkeit, Desinteresse oder Egoismus solche Entwicklungen, die Jugendliche in Sackgassen und auf Irrwege führen. Wenn ein junger Mensch aus größter Krise den Weg zurück in ein unbescholtenes Dasein findet, mutet dies dann wie ein Wunder an. Trotzdem haften die früheren Erlebnisse unauslöschlich im Gedächtnis und bestimmen und beherrschen die individuelle Emotionslage weiterhin. Stark im Unterbewusstsein verankert, behindern sie zeitlebens freies Denken.

So sollen die im nachfolgenden Roman geschilderten Irrungen und Wirrungen einer Gruppe von jungen Menschen beim Leser Erinnerungen an Erlebnisse der eigenen Jugendzeit mitschwingen lassen. Für die Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit muss jeder Konflikte bewältigen, die Abwehrmechanismen stärken und ständig eine Balance zwischen dem vernünftigen Ich und dem treibhaften Es herstellen, um Triebenergien zu regulieren.


1. Kapitel: Das Cabriolet
Illusionen über das Fest der Liebe

Melancholisch saß der Knabe am Fenster und schaute auf den Innenhof zwischen den Wohnblocks hinunter. Nichts bewegte sich, dann streunte die Katze des Hausmeisters zwischen den geparkten Autos hindurch Richtung Sandkasten. Sie sprang hinein, machte einen Buckel und verharrte in dieser Stellung. Nach einem Weilchen hüpfte sie einen Satz nach vorn und schleuderte mit den Hinterpfoten Sand nach der Stelle, an der sie gebuckelt hatte.
'So ein Mistvieh', dachte der Junge.

Ihn quälte die Zeit zwischen den Sommerferien und Weihnachten. Je mehr sich die Nächte ausdehnten, desto seltener durfte er mit seinen Freunden draußen im Freien verweilen. Drinnen im Haus fühlte er sich eingeschränkt und gegängelt. Wenn er vor dem Fernsehapparat saß, schaltete seine Mutter ohne Vorwarnung den Apparat aus, wenn sie meinte, es genüge. Meistens wechselte sie das Programm zu einer ihrer Lieblingssendungen hin. Sie liebte Talkshows und Krimis und wollte keine versäumen. Drehte er oben in seinem Zimmer die Musik auf, kreischte sie, dass sie Ärger mit den Nachbarn bekommen würde, und befahl:
'Mach sofort den Jammerkasten aus!'
Zeichnete er Drachen, Dämonen und Ungeheuer, wurde sie wütend, zerriss die kunstvoll gestalteten Blätter und schmiss sie in den Müll:
'Nur Behinderte produzieren solch einen Schund. Ich erlaube nicht, dass du das aufhebst.'
Ihrer Meinung nach sollte er nur lesen und lernen, lernen und lesen. Schlenderte er so lange wie im Sommer durch der Straßen, beschimpfte sie ihn als Rumtreiber und Taugenichts, aus dem niemals etwas Gescheites werden würde, und gab ihm Hausarrest.

Im November zeigte sich in den Kaufhäusern der Stadt das Nahen des Weihnachtfestes. Tannenzweige mit Kugeln und Lametta beherrschten die Auslagen der Geschäfte. Nikoläuse und Strohsterne verzierten die Schaufenster. Obwohl ihn die Pracht beeindruckte, glaubte er nicht mehr an den Weihnachtmann oder das Christkind. Diese Figuren hatten die Erwachsenen aus einem Grund erschaffen, den er nicht durchschaute. Sie würden die Geschenke bringen. Das war lächerlich. Trotzdem schrieb er, wie jedes Jahr, einen Wunschzettel an den Weihnachtsmann, weil er wusste, dass sein Vater das so liebte und ihm stets einen der Hauptwünsche erfüllte. Für das herannahende Fest setze er an den Anfang seiner Liste das taubenblaue, ferngesteuerte Mercedes-Benz-Cabriolet, bei dem man das Verdeck abnehmen konnte. Die beiden Türen und der Deckel des Kofferraumes ließen sich mit den Fingern öffnen und verschließen und mit dem Lenkrad konnten, unabhängig von der Fernsteuerung, tatsächlich die Vorderräder bewegt werden. Er hatte das Prachtstück in einer der Vitrinen des Spielwarengeschäftes in der Hauptstraße entdeckt, sich vorführen lassen und zum Objekt seiner Träume erkoren. Natürlich malte er die Worte auf dem Wunschzettel in der hellblau milchigen Farbe der Karosserie in Schönschrift. Daneben zeichnete er mit Sorgfalt ein Bild des Fahrzeuges. Das sollte als Fingerzeig genügen, was ihm wichtig war. Dann folgten in Schwarz auf Weiß die Wünsche nach den Dingen des Alltages. Diese wurden, wie er wusste, von seiner Mutter aufgenommen und erfüllt: