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Leseprobe für das Buch Flüchtlinge unterwegs nach Europa von Philipp Baar:

Inhalt

Vorwort

Qaisar - der Mechatroniker
Fluchtroute: Syrien, Saudi-Arabien, China, Syrien, Türkei, Griechenland, Schweiz, Deutschland

Mohammed - der Arzt
Fluchtroute: Syrien, Türkei, Deutschland

Nadifa - die Journalistin
Fluchtroute: Somalia, Kenia, Iran, Türkei, Griechenland, Deutschland

Malek - der Elektroingenieur
Fluchtroute: Syrien, Türkei, Griechenland, Deutschland

Yassir - der Schüler
Fluchtroute: Syrien, Libanon, Ägypten, Türkei, Algerien, Tunesien, Libyen, Italien, Schweden, Deutschland

* * *

Vorwort

Deutschland: eine Flüchtlingsgeschichte

Ich sitze Qaisar bereits seit Stunden gegenüber. Er ist zweiunddreißig und vor einigen Monaten aus Syrien geflohen. Seine Geschichte hat uns beide ins Schwitzen gebracht. Jetzt atmen wir durch, trinken Kaffee und rauchen Zigaretten. Mitten auf der Stirn trägt Qaisar eine x-förmige Narbe. Nur eines der Andenken an seine Heimat. Die anderen trägt er unter der Kleidung.
Ich kann seine Geschichte immer noch nicht richtig glauben, obwohl ich weiß, dass sie wahr ist. Aber irgendetwas in mir sperrt sich dagegen, diese Wahrheit zu akzeptieren. Weil sie so bitter ist.

So wie hier mit Qaisar ging es mir bei vielen Interviews, die für dieses Buch geführt wurden. Wie die anderen Flüchtlinge, die ihre Erlebnisse erzählt haben, ist Qaisar nun der Held einer der Geschichten dieses Buches geworden. Um das klar zu stellen: Ich war bei keiner der Geschichten live dabei. Die Texte bewegen sich im Grenzbereich zwischen Journalismus und literarischer Fiktion. Konkret heißt das, dass zwar viele kleine Details erdichtet wurden, die Handlung aber tatsächlich so passiert ist. Wahre Geschichten also, die gewissermaßen literarisiert sind. Das Meiste stammt aus der Erinnerung der Beteiligten, stellenweise sind aber Stimmungen, Wortwechsel, und so weiter erfunden. Das schadet den Geschichten nicht, denn sie sind Stellvertretergeschichten. So oder so ähnlich ist es vielen Flüchtlingen ergangen.
Auch die Namen der Beteiligten sind verändert worden, aus Sicherheitsbedenken und zum Schutz von Persönlichkeitsrechten.

Als Qaisar mir von seiner Zeit im Militärgefängnis erzählt, wird mir immer wieder flau im Magen und ich frage mich bereits, ob und wie ich es schaffe, diese Hölle zu beschreiben. Danach brauchen wir schon wieder eine Pause. Qaisar kocht. Nudel mit Käsesauce. Internationale Küche für den deutschen Gast. Schon der Geruch regt meinen Appetit wie-der an. Geschichten hören macht hungrig und Qaisar hat Talent in der Küche, auch wenn er davon nichts hören will.

* * *

Qaisar - der Mechatroniker
Fluchtroute: Syrien, Saudi-Arabien, China, Syrien, Türkei, Griechenland, Schweiz, Deutschland


Syrien, Saudi-Arabien, China: Ein Global Player

Sein Mechatronik-Studium schließt Qaisar als einer der besten seines Jahrgangs ab und so ist es auch kein Wunder, dass er ein lukratives Jobangebot erhält: Qaisar wird Wartungs-Ingenieur bei einer großen Maschinenbaufirma in Saudi-Arabien. Er ist gut in seinem Job, arbeitet gern und genießt es, sich anzustrengen. Der beste Moment des Tages ist für ihn der, wenn er völlig erschöpft nach einem langen Tag nach Hause kommt. Schon nach sechs Monaten machen sie ihn zum Chef der gesamten Abteilung. Anderthalb Jahre später hat er in seiner syrischen Heimatstadt Homs ein Haus gebaut.
Zwei Jahre nach seinem Abschluss winkt dann schon ein neuer Job. Qaisar soll Ausbilder für angehende Wartungs-Ingenieure werden. In Dschidda, am Roten Meer, gut 70 Kilometer östlich von Mekka. Er nimmt an und erwirbt in den nächsten Monaten viel Geld und noch mehr Erfahrung. Der Grundstein für seine Karriere ist gelegt. Es ist Anfang 2011 und in Nordafrika beginnen die Demonstrationen des Arabischen Frühlings. Auch in Syrien schielt man auf die neuen Freiheitsbewegungen.
Im März hat Qaisar Urlaub. Er fliegt nach Homs, um seine Familie zu besuchen. Mitte des Monats startet dort die Revolution. Qaisar geht mit seinen sechs anderen Brüdern auf die Straße. Sein ältester Bruder ist Anwalt und wird Chef des Oppositionskomitees. Am zweiten Tag auf der Straße erhält Qaisar einen Anruf von einem Freund, der meint, dass er jemanden beim Nachrichtensender Al Jazeera kenne und es doch klasse wäre, wenn sie die Demonstrationen filmen würden.
'Die Welt muss doch wissen, was in Syrien passiert.'
Qaisar stimmt zu. In Saudi-Arabien hat er sich ein iPhone zugelegt, mit dem er nun Videos macht. Auf Al Jazeera und kurze Zeit später auch auf anderen Sendern sind Banner und Fahnen schwingende Menschen zu sehen, deren Forderungen alle auf dasselbe hinauslaufen: Präsident Assad muss weg!
Die wichtigste Waffe der Revolutionäre sind Wörter. Es bleibt fünf Tage lang friedlich. Bis Assad und seine Leute sich überlegen, dass es nun genug ist. Am Sonntag kommen den Protestlern Soldaten entgegen. Die Demonstration sei sofort zu beenden, verlangt ein Offizier.
'Aber wir sind friedlich ...'
'Sofort beenden!'
'Sonst?'
'Sehen wir uns gezwungen, zu schießen.'
'Ihr würdet auf eure eigenen Landsleute schießen?'
Die Menge ist nicht zu beruhigen.
'Wir wollen unsere Freiheit!' und 'Weg mit Assad!' tönt es von irgendwoher.
Die Soldaten eröffnen das Feuer. Vierzig Männer, Frauen und Kinder werden an diesem Tag erschossen.
Wer in Homs bisher noch nicht an die Notwendigkeit einer Revolution geglaubt hat, wird an diesem Tag eines Besseren belehrt. Die Ermordung der Demonstranten mobilisiert die ganze Stadt.
Nachdem die Regierungstruppen weg sind, wird erstmal sauber gemacht. Die Bewohner von Homs kehren symbolisch den Dreck aus der Stadt. Jeder ist auf den Beinen und schwingt einen Besen. Qaisar filmt fleißig mit. Das Fegen der Straßen wird zum Ritual. Nach jedem Besuch der Truppen Assads sieht man Leute, die sauber machen. Abgesehen vom symbolischen Wert ist die Aktion auch wirklich nötig. Um die Ordnung aufrecht zu erhalten, schickt die Regierung gern den einen oder anderen Panzer durch die Stadt. Und so ein Panzer ist schmutzig. Seine Ketten reißen die Straße auf und er hinterlässt Öl. Dazu kommen die Hinterlassenschaften der zu Fuß durchziehenden Soldaten.
Als wieder Bürger von Homs erschossen werden, entscheidet Qaisar, sich von seinem Job beurlauben zu lassen, damit er sich voll und ganz für sein Land in der Opposition engagieren kann.
In seiner Garage arbeitet er an einem acht Meter langen Banner. Darauf ist eine Botschaft an die Regierung: 'Raus mit euch!' Jeder Buchstabe des Schriftzuges besteht aus den Namen der Ermordeten.