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Leseprobe für das Buch Den Tagen mehr Leben geben
Lebens-, Trauer- und Sterbebegleitung für den Pflege- und Betreuungsalltag
von Marion Jettenberger:

Sterben und Tod gehören leider immer noch zu den Tabuthemen unserer auf Leistung ausgerichteten „Höher-Schneller-Weiter-Gesellschaft“. Nur zu gerne blenden wir Themen wie Schwäche, Gebrechlichkeit, Alter, Tod und Sterben aus. Obgleich Altern, Tod und Sterben Themen sind, die uns alle früher oder später auf irgendeine Art und Weise auf unserem Lebensweg treffen und berühren werden. Mit unserer Geburt – auf die Welt kommend – steht bereits fest, dass wir die Welt mit dem eigenen Tod irgendwann auch wieder werden verlassen müssen, denn: wir alle sind nur Gast auf Erden!

Allmählich, wenn auch langsam verändert sich diese Haltung und immer mehr Menschen machen sich, durch eine bewusstere Lebenshaltung, auch über die letzte Phase ihres Lebens Gedanken und stellen sich, im Rahmen einer Vorsorgeplanung, auch Fragen, wie:
Wie wird es einmal sein?
Wie wird es mit mir zu Ende gehen?
Wann wird es so weit sein?
Werde ich einmal zu Hause sterben dürfen oder muss ich in eine Klinik?
Werde ich in ein Altenheim verbracht, weil ich anderen zur Last falle?
Wird dann jemand bei mir sein?
Habe ich liebevolle Begleiter an meiner Seite?
Oder werde ich in meiner letzten Stunde allein sein?
Werde ich Schmerzen haben? Oder das Bewusstsein verlieren?
Werde ich Angst haben? Wird es eine Qual sein?
Und was kommt danach?
Gibt es ein Leben nach dem Tod? Oder ist mit dem Tod alles vorbei?

Lebenssinn – Lebenszweck
Welchen Sinn und Zweck unser Leben hat, fragen wir uns immer wieder an bestimmten Wendepunkten. Meist dann, wenn es uns gerade nicht so gut geht. Dieses Hinterfragen des Lebenssinns zählt daher auch zu den natürlichen menschlichen Neigungen. Gerade bei der Begleitung von Menschen im hohen Alter konnte ich diese Suche oft miterleben. Zurückblickend auf das eigene Leben, fragen sich die Menschen dann: Was hatte dieser oder jener Schicksalsschlag für einen Sinn? Was habe ich alles erlebt? Was habe ich geleistet? Was für einen Sinn hat(te) mein Dasein? Welchen Zweck? Auch diese Sinnsuche kann ich als Begleiter aktiv unterstützen und begleiten.

Trauer
Während des Lebensrückblicks bzw. ausgelöst durch diesen kann es auch zu Trauerreaktionen kommen. Man hat in seinem Leben möglicherweise jemanden verloren oder einen anderen Verlust erlitten und dieser Verlust schmerzt immer noch, konnte noch nicht betrauert, bewältigt und losgelassen werden. Auch der Verlust der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten und die damit verbundenen Emotionen, wie beispielsweise die Trauer darüber, sind nicht zu unterschätzen. So kann der Verlust der Kontrolle über den eigenen Körper sowie der eigenen Identität, des eigenen ICH‘s, und der kognitiven Fähigkeiten und nicht zuletzt auch der drohende Verlust des eigenen Lebens Trauer hervorrufen. Dies kann auch zu einer pathologischen Trauer, wie beispielsweise einer Depression, führen. Eng verbunden mit diesen Trauergefühlen sind häufig auch Ängste.

Angst
Tod und Sterben machen Angst. Diese Angst empfindet nicht nur der Sterbende selbst, sondern oft auch das System um den Schwerkranken und Sterbenden herum: die Begleiter, die Angehörigen oder auch Ärzte. Diese Angst vor dem Sterben hat sicherlich auch etwas mit der Unsicherheit zu tun, wie der Tod/das Sterben sein wird, ob man Schmerzen erleiden, ob die Angst weiter zunehmen wird … – und auch damit, was „danach“ kommt. Vor allem hat sie etwas damit zu tun, dass dieses „Danach“ keiner kennt und niemand weiß, was mit uns geschieht, wenn wir tot sind. Vorstellungen von der eigenen Beerdigung oder dem Verbranntwerden, dem „Einfach-nicht-mehr-da-Sein“ sind einfach unglaublich und können Ängste hervorrufen. Wichtig ist, diese Ängste zu nehmen – bei sich, bei den anderen, vor allem bei den Schwerkranken und Sterbenden – und sich gemeinsam dieser Angst zu stellen, damit sie uns nicht lähmt.

'... Und was kommt danach?'
Im Zusammenhang mit Ängsten und der Trauer erscheint mir die Beschäftigung mit Fragen wie „Was kommt danach?“, „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“ oder „Ist mit dem Tod alles vorbei?“ wichtig. Wenn wir uns diesen Fragen stellen, können wir möglicherweise Ängste und Trauerreaktionen verringern, indem wir in der Auseinandersetzung mit ihnen das eigene Ende „bejahen“ und annehmen. Seit jeher beschäftigen sich die Menschen mit diesen Fragen auch im Rahmen von Religion und Spiritualität. In den verschiedensten Glaubensrichtungen finden wir zu diesen Fragen Antworten, die eine Brücke für Gespräche sein können. Sich diesen Fragen zu widmen, kann eine Aufgabe für alle Begleiter sein und es stellt eine wertvolle, gezielte Zuwendung gegenüber den Sterbenden dar.

Versöhnung und Aussöhnung/Schuld und Vergebung
Um in Frieden leben und sterben zu können, sind auch Versöhnungs- und Aussöhnungsprozesse sowie die Beschäftigung mit den Themen Schuld und Vergebung sehr wichtig. Ich erlebe die Auseinandersetzung mit diesen Themen als eine Suche nach dem „inneren Gleichgewicht“ und dem „inneren Frieden“, der sich bei vielen Menschen im Alter und im Angesicht des Todes fast automatisch einstellt. Es erfolgt ein beinahe selbstverständliches „Ordnen“ von Gefühlen, ein sich Aussöhnen mit den Geschwistern, den eigenen Kindern oder mit sich selbst.
Verschiedene Glaubensrichtungen beschäftigen sich ebenfalls in Form der Gewissenserforschung mit dem Thema Versöhnung. In der katholischen Kirche beispielsweise ist es die Beichte, in der viele Menschen eine „Befreiung von ihren Sünden“ erfahren. Es gibt aber auch andere Möglichkeiten, diese Versöhnungs- und Aussöhnungsprozesse gezielt anzubieten und zu begleiten, um auf diese Weise verschiedene, manchmal quälende Themen bewältigen zu helfen und ein loslassen zu ermöglichen – mit dem Ziel, im Gleichgewicht und in Frieden sterben zu können.

Was hat Lebensbegleitung mit Sterbebegleitung zu tun?
Lebensbegleitung, Trauerbegleitung und Sterbebegleitung stellen, wie beschrieben, einen ineinandergreifenden Prozess dar. Und es ist mehr noch: eine ganzheitliche Haltung, die gelebt werden will. Eine Haltung, die Tod und Sterben nicht in den Vordergrund stellt, aber auch nicht ausblendet. Während sich die Altenpflege bis vor einigen Jahren noch hauptsächlich auf „satt und sauber“, sprich auf eine gute Pflege und medizinische Versorgung bis zum Schluss konzentrierte, entsteht jetzt auch immer mehr ein Bewusstsein dafür, dass dies zu wenig ist und wir den Menschen ganzheitlicher begleiten müssen. Ihn nicht nur pflegen und aktivieren, sondern auch in irgendeiner Form psychosozial, seelisch, begleiten müssen. Ihm in seinen Ängsten vor dem Tod, in seiner Trauer über bestimmte Lebensereignisse, wie z.B. die letzte Lebensstation im Altersheim, beistehen müssen. Auch dass diese Themen nicht so lange wie möglich ignoriert und ausgeblendet werden dürfen, sondern genauso wichtig sind wie Aktivierung und Pflege, setzt sich langsam durch. Lebensbegleitung bedeutet für mich z.B. in einem Alten- und Pflegeheim, die Betreuten von ihrem Einzug an bis hin zu der Diagnose „palliativ“ und darüber hinaus auch ihren Sterbeprozess zu begleiten. Vor allem aber bedeutet es für mich, die Betreuten in ihrem Leben zu begleiten, das Leben selbst bis zum Schluss zu begleiten und nicht erst im Sterbeprozess mit der Begleitung zu beginnen.

Das Bedürfnis, gebraucht zu werden und (noch) etwas wert zu sein
Der Verlust des eigenen Zuhauses und der Umzug ins Pflegeheim stellen eine Entwurzelung dar und werden meist als tiefer Einschnitt und Lebenskrise empfunden. Angst vor Abhängigkeit und das Angewiesensein auf „fremde Hilfe“ anstelle eines wertschätzenden „Ich-werde-noch-gebraucht“-Gefühls nagt an der Identität des alt gewordenen Menschen. Meine Betreuten entwickeln oft das Gefühl, nur noch eine „Last“ zu sein, „nutzlos“ und „wertlos“ zu sein und von niemandem mehr „gebraucht zu werden“. Trotz dieser Einschränkungen und Beschränkungen ist es wichtig, ein gesundes Selbstbild und die eigene Identität zu bewahren. („Ich kann noch was.“ – „Ich bin was wert, ich bin noch zu etwas nutze.“) In unserer Begleitung können wir die Menschen erfahren lassen, dass jedem eine Würde und Achtung geschenkt wurde, trotz der vielen Verluste, die das Altern mit sich bringt.

Das Bedürfnis nach Sinnsuche/Sinnfindung
Eng verbunden mit dem Rückblick ist die Suche nach dem Lebenssinn. Auch die Frage nach dem Sinn begleitet einen jeden Menschen vom Anfang bis zum Ende seines Lebens. Im Alter wird diese Frage oft im Zusammenhang mit dem Lebensrückblick auf das gelebte Leben noch einmal sehr präsent:
- Was für einen Sinn hatte mein Leben?
- Welchen Sinn hatte … (z.B. der Tod meines Kindes oder des Mannes, die schwere Krankheit damals …)
- Was habe ich bewirkt?
- Was wird davon bleiben?

Versöhnt sein
Versöhnt sein
Mit sich
Mit den anderen
Mit der Welt
Um loslassen zu können
Loslassen
Alle Konflikte
Alle Verletzungen
Alle Sorgen
Allen Unfrieden
Alle Not
Und allen Schmerz
Um inneren Frieden
Und Herzensruhe zu finden
In sich
Versöhnt

Marion Jettenberger