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Das beim Näherkommen der Häftlingskolonne anschwellende Geräusch lässt einen Grundrhythmus erkennen, eingepeitscht von begleitenden Schreien der Wachmannschaft, doch überlagert immer wieder von einzelnen aus dem Tritt Gekommenen - infolge der Straßenglätte, der eigenen Schwäche, der wegrutschenden Holzpantinen. Ich sehe den schier endlos erscheinenden Zug ausgemergelter Gestalten vorwärts stolpern, die meisten Köpfe geschoren, teils von nachwachsenden Haarstoppeln gesäumt, den leeren Blick auf das Pflaster oder den Vorausgehenden gerichtet, frierend in dünnen gestreiften Häftlingsklamotten, die - teils zu groß, teils zu klein - die Missachtung der Träger durch ihre wohl genährten Aufseher reflektieren, sie zur uniformierten Masse degradiert haben, die beinahe alters- und geschlechtslos ist, abgerichtet zur Arbeit … Wer sind diese Menschen? Gibt es noch Spuren von ihnen? Woher kamen sie? Was haben sie erlebt? Gibt es Überlebende? Wie kann man sie finden? Fragen, die mich zu Nachforschungen veranlassten. Die erste Spur bot eine Transportliste (Anmerkung: Fund von Familie Schneider 2015 in Yad Vashem). Auf ihr wurden rund 800 jüdische Zwangsarbeiterinnen aus Ungarn und Polen verzeichnet - anlässlich ihres Abtransports von Geislingen nach Dachau/Allach, wohin sie noch kurz vor ihrer Befreiung durch amerikanische Truppen am 11.4.1945 gebracht wurden. Aufgelistet wurden nicht nur die Namen der Frauen und ihre Häftlingsnummer, sondern auch ihr Geburtsort und Geburtstag. Letzterer war, wie sich später herausstellte, in Einzelfällen dem von den Nazis bevorzugten Alter der Arbeitskräfte angepasst worden, um einer drohenden sofortigen Vernichtung zu entgehen. Zum Zeitpunkt ihres Abtransports aus Geislingen waren die Frauen diesen Angaben zufolge zwischen 14 und 50 Jahre alt, wobei der Schwerpunkt bei den jüngeren Frauen um 20 lag. Von den ursprünglich 820 ausländischen Zwangsarbeiterinnen kam etwa ein Siebtel aus Polen, einem Land, mit dem ich mich auf Grund meiner eigenen Familienforschung schon länger beschäftigt habe und dem daher mein besonderes Interesse galt. Dem Verzeichnis der Geburtsorte der polnischen Zwangsarbeiterinnen war zu entnehmen, dass mindestens zwei Drittel aus dem Raum Lodz stammten. Aus Lodz direkt stammte, folgt man der Liste der Nazis, angeblich niemand. 77 Frauen waren in der Liste ihres Geburtsortes beraubt worden. Als einziger der angegebenen polnischen und ungarischen Geburtsorte existierte er nicht. Der Name eines im 1. Weltkrieg bei Lodz siegreichen deutschen Generals löschte den polnischen Namen der Stadt aus und beraubte die gebürtigen Bewohner wörtlich ihrer geographischen Wurzel. Die Eindeutschung der Schreibweise des Städtenamens hatte den Besatzern nicht genügt, 'Lodsch' wurde im April 1940 zu 'Litzmannstadt' germanisiert. Die zu Nummern degradierten Menschen sollten abgeschnitten von ihrer geographischen und geschichtlichen Identität auf ihre Verfügbarkeit als Arbeitskraft reduziert werden. Eine direkte Spur zu den in Geislingen arbeitenden Lodzerinnen verdanke ich dem Hinweis des Hobbyhistorikers Hoche auf die Video-Interviews der südkalifornischen Universität (USC), die in den 90er Jahren an verschiedenen Orten der USA, Kanadas und Südafrikas (Anmerkung: Die in Israel in hebräischer Sprache aufgenommenen Interviews konnten hier mangels Hebräischkenntnissen nur in einem Einzelfall berücksichtigt werden), weitab von ihrer ursprünglichen Heimat aufgezeichnet wurden und den Namen nicht nur ein Gesicht, sondern auch eine Stimme verliehen, die die Vergangenheit der Holocaust-Überlebenden lebendig werden ließ. 18 Lebensgeschichten verschmolzen zu einem eindrucksvollen Bild eines düsteren Zeitabschnitts, der trotz intensiver Forschung noch immer zusätzlicher Erhellung bedarf. Die verschiedenen Biografien von Molly Ash, geb. Maroko, Sala Biren, geb. Rozenberg, Sarah Blustein, geb. Nirenberg, Helen Bolstok, geb. Kempinska, Esther Brandeis, geb. Gerszt, Hanka Cygler, geb. Goldberg, Esther Davidson, geb. Pelman, Miriam Dressler, geb. Sznaiderman, Libby Erlich, geb. Domb. Mary Feigenblatt, geb. Warszawska, Ester Gordon, geb. Szwarzbaum, Tauba Granek, geb. Grosman, Jean Kail, geb. Guta Olszer, Rose Kohn, geb. Rachela Ejzman, Mila Korn, geb. Karp, Minia Moszenberg, geb. Wasilkowska, Regina Stawski, geb. Rivkale Frant, Rose Zylberberg, geb. Rejzl Blogowska, sind bisher noch nie zusammengeführt worden, die wenigsten Überlebenden kennen sich persönlich, obwohl sie aus derselben Stadt, wenige aus benachbarten Städten stammen. Sie gehören in etwa derselben Generation an, sind in derselben Region aufgewachsen, derselben Religionsgemeinschaft zuzurechnen, die sie in unterschiedlichem Maße prägte. Fast alle beschreiben eine glückliche Kindheit im Raum Lodz, einer Stadt, deren Name wörtlich 'Boot' bedeutet und die ihnen in jungen Jahren Sicherheit und Geborgenheit gab, wenn auch hin und wieder eine Welle des Antisemitismus das polnische Boot schaukeln ließ. Als jedoch das Boot gekapert wurde und unter der gefährlichen Naziflagge weiterfuhr, erlebten sie Plünderung, Ausbootung im wahrsten Sinne des Wortes und Abschiebung ins Ghetto, gefolgt von rücksichtsloser Ausbeutung als Arbeitssklaven einer Galeere, der sie nicht entkommen konnten. 1. Leben in Lodz bis zum Ausbruch des 2. Weltkriegs Die Mehrheit der Frauen, deren Lebensgeschichte hier ein Stück weit nachgezeichnet werden soll, wurde in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in eine quirlige Industriestadt hineingeboren, die sich seit dem Ende des 1. Weltkriegs im Zentrum des wiedererstandenen Staates Polen befand: Lodz. Die jungen Eltern dieser neugeborenen Lodzerinnen waren noch von der Randlage der Stadt an der Peripherie des russischen Reiches geprägt worden, von der Abhängigkeit der städtischen Textil-Industrie vom russischen Absatzmarkt, von dem sie infolge der militärischen Auseinandersetzung um die Ostgrenze des neuen Polen nun abgeschnitten war und sich neu zu orientieren begann. Trotz der Schwierigkeiten bei der Zusammenführung der unterschiedlich entwickelten Gebiete der ehemaligen polnischen Teilungsmächte Preußen, Österreich und Russland im nunmehr souveränen Polen sahen die jungen Eltern wie viele ihrer Zeitgenossen hoffnungsvoll in die Zukunft, die sie in der zweitgrößten Stadt des Landes gesichert sahen. Der Zuzug nach Lodz überstieg in diesen 20er Jahren den in andere Städte Polens beträchtlich1) und stärkte insbesondere den jüdischen Bevölkerungsteil. Zu diesen Zuzüglern zählte z.B. die Familie von Mary Warszawska, die Anfang 1924, kurz nach Marys Geburt von Wielun nach Lodz zogen. Wann die anderen hier betrachteten jüdischen Familien nach Lodz kamen, lässt sich aus den Interviews kaum erschließen. Nur in einzelnen Fällen werden auf dem Land lebende Großeltern erwähnt, was nahe legt, dass erst die Elterngeneration in die Stadt zog, und zwar in den Boomjahren 1894 bis 1914, als sich die Einwohnerzahl Lodzs verdreifachte und von etwa 160.500 auf knapp 478.000 Einwohner anstieg.2) Sala Rozenbergs Eltern sind selbst noch in Kleinstädten nahe Lodz geboren (und zwar der Vater 1899), sie selbst aber 1925 bereits in Lodz. Der Vater der jüngsten der hier vorgestellten Überlebenden, Mila Karp, führte gemeinsam mit seinen Brüdern verschiedene Bekleidungsgeschäfte, die sie wiederum von ihrem Vater geerbt hatten. Seit wann sich der Familienbesitz in Lodz befindet, wissen wir nicht. Tauba Grosman erzählt, dass ihre 1897 geborene Mutter Lea Chabanska bereits als Kind mit ihrer Familie vom Lodzer Umland in die Stadt zog, um sich hier einen besseren Lebensstandard aufbauen zu können. Taubas Vater Mosze ist 1898 in Lodz geboren. Ob seine Vorfahren schon in Lodz lebten, ist unbekannt. Bereits in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts lebten vereinzelt Juden in dem kleinen Dorf Lodz3), das, nachdem es 1821 von der Regierung zur Fabriksiedlung erklärt wurde, bis zur Mitte des Jahrhunderts von mehreren Einwanderungswellen deutscher Handwerker heimgesucht wurde. Diese Deutschen stellten bis in die 60er Jahre die Mehrheit der Stadtbewohner, bis die Aufhebung der Niederlassungsbeschränkungen und die Gewährung der Freizügigkeit in der Folgezeit für einen starken Zustrom von Juden und Polen sorgte und die Nationalitätenstruktur der Textilmetropole zu deren Gunsten veränderte. Der jüdische Anteil wurde in den 90er Jahren durch die Immigration von Litwaken aus den westlichen Gouvernements des Russischen Reiches verstärkt, die in die Lodzer Textilindustrie investieren wollten.4) Die massiven Zuwanderungen schlugen sich auch im Stadtbild nieder. Die deutschen Zuwanderer siedelten sich überwiegend südlich des alten Ackerbaustädtchens in der Neustadt an, während sich die jüdischen Zuwanderer, die sich zunächst in den Vorstädten Baluty und Radogoszcz niedergelassen hatten, nun hauptsächlich im Nordteil der Stadt in einem weitgehend geschlossenen Wohnviertel zusammenfanden. Dieses breitete sich entlang der Hauptstraße Piotrkowska, die die Nord-Südachse der Stadt bildete, bis zur Stadtmitte hin aus. 8.2 Das Lagerpersonal und seine Rangordnung Die bisher wiedergegebenen Erfahrungen unserer Zeitzeuginnen im Lager Geislingen rücken die Frage nach den dafür Verantwortlichen und nach dem Lagersystem in den Mittelpunkt: Die Lagerführung oblag einem SS-Kommando, das vom KZ Natzweiler eingesetzt wurde. Drei Lagerführer wechselten sich während des Bestehens des Geislinger Außenkommandos ab, ähnlich wie auch die Führer der Hauptlager einer ständigen Rotation unterworfen wurden. (Ein Teil der Zeitzeuginnen erlebte, wie Kramer, der während ihrer Inhaftierung in Auschwitz-Birkenau dort Kommandant war, im Zuge der Auflösung des Lagers nach Bergen-Belsen versetzt und dort eine Angleichung des Lagersystems vornahm. Vor seiner Zeit als Kommandant von Auschwitz war Kramer in Natzweiler Kommandant. Eine Rochade mit Fritz Hartjenstein brachte Kramer nach Auschwitz-Birkenau und Hartjenstein nach Natzweiler, wo er im Mai ‘44 als Kommandant eingesetzt wurde und die Außenlager auch nach der Auflösung des Hauptlagers im September ‘44 vom rechtsrheinischen Gebiet aus bis Ende Februar ‘45 führte. Sein Nachfolger Heinrich Schwarz blickte ebenfalls auf Erfahrungen in Auschwitz zurück, wo er bis zur Auflösung infolge des Vordringens der Roten Armee Kommandant des selbständigen Lagers Monowitz war.) Die Schutzhaftlagerführer des Außenlagers Geislingen unterstanden also den jeweiligen Kommandanten des Hauptlagers Natzweiler, Hartjenstein bzw. Schwarz. Das Schutzhaftlager Geislingen wurde von Schutzhaftlagerführer Ahrens aufgebaut, wie er selbst am 4.9.1968 dem Landeskriminalamt Bremen zu Protokoll gibt.1) Der 1887 in Bremen Geborene war als SS-Oberscharführer am 1.4.44 vom KL Ravensbrück zum KL Natzweiler versetzt worden, von wo er spätestens Ende Juli nach Geislingen abgeordnet worden sein muss. Zur Unterstützung wurden Ahrens nach einiger Zeit zwei Stellvertreter beigegeben, Mokros und Stojan, über die er selbst keine Äußerungen macht. Über Stojan gibt eine Kriegsgefangenenakte Auskunft: Der 1889 in Annahütte/ Niederlausitz geborene Karl Stojan ist nur eineinhalb Jahre jünger als Ahrens. Er ist 1,72 m groß, dem Gewicht von 64 kg im Jahre 1946 zufolge schlank, hat graues Haar und braun-graue Augen. Woher seine Narben am linken Unterarm stammen, ist unbekannt. Sein früherer Beruf war Glasarbeiter. 1933 wurde er Mitglied der DAF, von 1938 bis 1943 Mitglied des NS-Kriegerbundes. Von Juli ‘44 bis Oktober ‘44 gehörte er einem Grenadier-Ersatzbataillon an, vom 1. Oktober ‘44 bis Kriegsende (29.4.45) dem Waffen-SS-Totenkopfwachbataillon. Ahrens übertrug ihm die Aufsicht über die in der WMF beschäftigten Häftlinge und unterstellte ihm die dortigen SS-Werksaufseherinnen. Über Unterscharführer Mokros‘ Werdegang ist nichts bekannt. Laut Aufseherin Merkle war er damals etwa 30 Jahre alt, stammte aus Oberschlesien und war auf der Schreibstube beschäftigt.2) Aufseherin Ihle schätzt sein damaliges Alter auf 35 bis 40 Jahre und meint, dass er aus Kattowitz stammte.3) Aufseherin Rosa B. hält ihn wiederum für jünger, nämlich etwas über 30 Jahre und nennt als seinen Heimatort Hindenburg/Zabrze, nicht weit von Kattowitz gelegen.4) Seit wann der auch für die Verpflegung des Lagers Zuständige in Geislingen eingesetzt war, geht aus dem vorhandenen Aktenmaterial nicht hervor. Beide Stellvertreter des Lagerführers wurden während der Lagerzeit von Geislingen nicht ausgewechselt. Als Bewachungsmannschaft wurden dem Lagerführer etwa ein Dutzend Landesschützen und Wehrmachtsangehörige, die nicht mehr fronttauglich waren, vom Hauptlager Natzweiler zugewiesen5) und hatten im Tag- bzw. Nachtdienst die Außenbewachung des Lagers zu gewährleisten und, sobald die Fabrikarbeit der Häftlinge anlief, diese vom Lager zum Werk und zurück zu begleiten. Als männliche Wachpersonen hatten sie nach Aussage des Wachmanns Obel6) keinen Zutritt zum Lager der Frauen. Bis zum Eintreffen der noch in Ausbildung befindlichen SS-Aufseherinnen Mitte August wurde die Lagerordnung von den ungarischen Jüdinnen selbst aufrecht erhalten und organisiert.7) Die Ankunft der größten Gruppe der SS-Aufseherinnen aus Ravensbrück ermöglichte ab 16.8.44 den Arbeitseinsatz der Häftlinge in der WMF8). Für das Lager zuständig wurde die Aufseherin Rosa B., die Ahrens zunächst als Küchenaufseherin bestimmte. Dann weitete er ihre Zuständigkeit auf den gesamten inneren Lagerbereich aus. |