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Verlegen blickten sich die drei an, ärgerten sich im Nachhinein, einen Fremden mit ihren Problemen belästigt zu haben. ‘Nichts!’, fand als erste die Frau die Sprache wieder. ‘Sie sind doch unser Gast!’ ‘Wie ich sehe’, erwiderte Zingst, ‘befinden Sie sich in einer akuten Notsituation, und da möchte ich einfach meine Hilfe anbieten!’ ‘Sie ham uns schu soviel geholfen!’, schnäuzte sich verlegen der Hans-Tonl in sein buntes Taschentuch. ‘Nae, machen Sie ner Ihr’n Urlaub!’ ‘Aber ich helf’ gern! - Gibt’s vielleicht was zu bemalen oder einzupacken? - Ich möchte mich gern nützlich machen!’ Der Schnitzer und seine Frau blickten sich scheu an, die Frau meinte schließlich, dass beim Verpacken der Ware schon Hilfe willkommen wäre. So schloss sich Zingst der Familie an und half zusammen mit der Tochter beim Verpacken des originellen Christbaumschmuckes. ‘Hunderte von den Engeln hätten wir machen könn’, die hätt’ die Sedlhofer alle mit Kusshand abgenommen. Aber das ist unmöglich. Da kämen wir mit den anderen Figuren net nach. Und de Lait’ wolln doch net nur Engele am Christba’m sehn!’ So bestückte Zingst zusammen mit der blassen Renate weihnachtlich bunt bedruckte Kartons mit den zierlichen, bunten Figuren. Da waren kleine Nussknacker und niedliche Walzenpferdchen besetzt mit winzigen Reitern. Auch bärtige, kleine Weihnachtsmänner, ganz in Rot, und Zwerge in vorgefertigte Plastik-Mulden zu legen. In die Mitte jeder Schachtel aber legte man stets ein Engelchen, ähnlich dem Muster, das auf dem Fensterbrett stand. Bei soviel Geschäft im Sommer wurde es ziemlich warm in der Werkstatt. Umsichtig wie sie war, verschwand daraufhin die Lina für eine kurze Zeit, um dann mit einer großen Bowlenschale wieder zurückzukehren. Hei, da ging die Arbeit noch einmal so flott von den Händen! Zingst bemerkte, dass die Renate oft einen verstohlenen Blick zu ihm übern Tisch warf. Auch bemerkte er, dass die Blässe von ihr wich, wenn seine Blicke sich mit den ihrigen kreuzten. Unwillkürlich dachte er an seine Bekanntschaft, die stressige Grässle, die sich in diesem Jahr wohl von einem anderen am Teutonengrill den Rücken eincremen lassen wird. Nein, hatte er es sich geschworen; er wollte nie mehr der Blitzableiter dieser launischen Person sein, nie mehr nur ihr Stallknecht und Lustbursche. Unweigerlich zog er bei seiner Handreichung für den Hans-Tonl Vergleiche und kam zum Schluss, er war zwar zur rechten Zeit in sein heuriges Urlaubsdomizil gekommen, doch für die Renate, mit der er sich durchaus eine gemeinsame Zukunft hätte vorstellen können, da war er wohl zu spät hier erschienen. - Oder? - Auf einmal kreisten zu viele Fragen in seinem Kopf herum, auch solche, die er schier nicht allein zu beantworten wusste. Doch als kühler, überlegter Geometer wusste er, alle Dinge brauchen ihre Zeit. Plötzlich, am Nachmittag, ertönte lautes Hupen vor der Tür. Erschrocken horchten alle auf. ‘Die Sedlhofer!’, fiel dem Hans-Tonl schier der Pinsel aus der Hand. Schnell überflog die Lina das Geschaffte und stellte fest, dass nur noch fünf Kartons an der georderten Lieferung fehlten. Da legten sie alle noch einmal einen kurzen, schnellen Endspurt ein, und dann standen dreißig tolle Verpackungsschachteln fix und fertig für den Versand da. Bald war Kaffee gekocht, und man fand sich zu einem ausgiebigen Plausch in der Küche ein; schließlich wusste die Sedlhofer immer was Neues zu berichten, das bis hierherauf zum Alpenrand noch nicht vorgedrungen war. Laut lachend und schwätzend verstauten danach die Frauen die Kartons im Kofferraum des Sedlhoferschen Wagens, und bald darauf winkten sie alle der davonfahrenden Einkäuferin nach, bis sie hinter der letzten Kurve vorm Tal verschwunden war. Recht zufrieden mit dem Ausgang des Geschäftes, kehrten sie alle danach in die Werkstatt zurück. Wo vorher noch ein Durcheinander herrschte, erstrahlte bald eine museumsreife Ordnung, die den Charakteren der beiden Alten glich. ‘Das war ’s für heut!’, meinte der Hans-Tonl und blickte als letzter noch einmal kurz in die Runde. Plötzlich schrie er auf: ‘Der Engel! - Unner schennstes Stück, unner Musterstück is’ wag!’ Wie vom Schlag gerührt, hielten alle inne, stürzten in die Werkstatt zurück, begannen zu suchen. Doch so emsig sie sich alle auch anstrengten, der wunderschöne, kleine Engel, den der Schnitzer auf der Fensterbank postiert hatte, blieb verschollen. ‘Wie ka‘ denn dös passiern!’, jammerte der Alte, versuchte auf allen Vieren in jede Ecke des Raumes, hinter jede Maschine, jedes Regal zu kriechen. ‘Vater!’, schrie die Tochter auf, kroch ihm hinterher. ‘Tun Sie ’s nicht!’, packte Zingst den Hans-Tonl, zog ihn hoch und setzte den um Luft ringenden Alten auf einen Stuhl. Dann reichte er der Renate die Hand, zog sie unter der verwinkelten Drechselbank hervor. Und als er ihr hoch half, sie für einen Moment umfing, da verspürte er die rasenden Schläge ihres Herzens. Behutsam übergab er sie der Lena. Während alle die Werkstatt verließen, durchwühlte er als letztes den Abfalleimer. Aber außer einem verpatzten Holzengelstück befand sich da nichts zwischen den Spänen und Farbresten. So wurde es ihm zur Gewissheit: Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die nicht in unserer Macht stehen. - Wer wollte dem widersprechen! Betrübt versammelten sich alle Sucher danach um den Küchentisch vorm Herrgottswinkel, in den Köpfen die Frage, die keiner auszusprechen wagte: Wer hat den Musterengel in die Lieferung gepackt; denn nur dort konnte er nach irdischem Ermessen nunmehr sein. Aber so sehr man sich auch die Köpfe zermarterte, es war nicht mehr zu ändern; der Engel war fort! ‘Wer weiß, zu was das alles gut ist!’, seufzte die Lina und nahm ihre kranke Tochter Trost suchend in die Arme. Nur Zingst allein wusste, was sich zugetragen hatte: ‘Ranoel ...!’ Während man noch verzweifelt nach Hans-Tonls Musterengel suchte, da befand der sich bereits auf der Fahrt in eine neue Zukunft. Was hatte er doch gerufen und gebettelt, als ihn die Tochter des Schnitzers gepackt und in einen Karton zu anderen, bunten, toten Holzstücken gelegt hatte! Sie hatte eben sein Flehen nicht mehr hören, nicht verstehen können; zu weit hatte sich bereits ihr Innerstes nur nach der einen Seite des Seins, der materiellen mit all ihrer Gier nach Glamour und Lust, bewegt; sie war einseitig geworden und wusste nicht mehr genau, was wirklich gut und recht ist. Daher lag nun Ranoel im Finstern, wurde gerüttelt und nach allen Seiten gezogen. Kein schönes Gefühl für ihn, den Strafversetzten; denn die Schwerkraft der Erde, die er bereits so derb beim Sturz vom Fensterbrett durchkostet hatte, machte ihm nur noch Angst. Plötzlich wurde es wieder ruhig und still, Menschenstimmen irgendwo in der Nähe. Die Kartons wurden gehoben, geschoben und irgendwohin unsanft abgestellt. Wieder ein grobes Rucken, und plötzlich blendete ihn helles, irdisches Licht unsäglich. ‘Ach, wie schön!’, vernahm er eine übertourte Frauenstimme, dann wurde es auch schon wieder finster um ihn herum. Von da an vernahm er nur noch ab und zu das schrille Schellen einer Türglocke und die Stimmen grundverschiedener Menschen. Feierlich ums Herz jedoch wurde es ihm in seiner Nacht, wenn das nahe, volle Geläut einer großen Kirche an sein Ohr traf. Dann schwelgte er in Erinnerungen an jene Zeiten, als er mit seinen Freunden auf solch heiligen Schallwellen weit übers Land hinwegsurfte. Doch das schien ihm bereits eine Ewigkeit her, und nun lag er gefangen in dieser engen Schachtel und hoffte, dass endlich jemand ihn aus seinem finsteren Kerker wieder ans Tageslicht holen würde. Wie nicht anders zu erwarten war, befiehl ihn in dieser dunklen Einsamkeit zunehmend Angst und Verzweiflung. Mit letzter Kraft schrie er nach seinen Freunden, doch niemand schien ihn zu hören, keiner antwortete ihm. ‘Warum willst du mich vernichten, mein großer Fürst Gabriel?’, jammerte er. ‘Ist schon der Menschen jüngster Tag angebrochen? Haben die Gerechten bereits über mich, den gestrauchelten Engel, ihr Urteil gefällt?’ Aber auch darauf bekam er keine Antwort. So schleppte sich die Zeit dahin, der er nunmehr wie alles Vergängliche unterlag. Schon glaubte er nicht mehr an eine Veränderung für ihn zum Guten, da drang auf einmal wunderbare Musik an sein Ohr. Von irgendwoher draußen kam sie herein, zumeist Stücke zur Ehre des Allmächtigen. Dazu immer häufiger das brutale Schellen der Ladenglocke. Doch die Menschenstimmen, die er vernahm, enttäuschten ihn alle; sie redeten nur von Gütern und Geld, wenn auch mit einem viel friedlicheren Gebaren als sonst: Viel Freude lag auf einmal in deren Stimmen. Da, plötzlich wieder ein Rücken und Stoßen, der Deckel wurde abgerissen und ein hageres Männergesicht, verziert mit einer goldenen Brille, beugte sich über ihn: ‘Oh, sehr schön, wirklich! - Den nehm’ ich!’ Ranoel war glücklich; endlich schien es für ihn wieder Licht zu werden, doch da wurde schon wieder dieser elende Pappdeckel über ihn gestülpt. Und wieder wurde seine Schachtel so sehr geschoben und gedreht, dass sich in ihr das Unterste zuoberst kehrte, er zwischen Nussknacker, Nikoläusen und anderem hart zu liegen kam. ‘He, he!’, protestierte er laut. Aber seine Stimme war für Menschenohren einige Oktaven zu hoch. Schließlich kam es ihm vor, als wenn er samt allem bunten Krimskrams, der neben ihm, unter und über ihm lag, davongetragen wurde. Eine kurze Autofahrt darauf, und dann schien man endlich am Ziel zu sein. Ranoel vernahm eine laut jubelnde Kinderstimme, die sich über den Vater, der heimgekommen war, freute. |